Sehr geehrte Fragestellerin,
ich möchte Ihre Fragen anhand des dargestellten Sachverhaltes und des ausgelobten Einsatzes im Rahmen einer ersten rechtlichen Einschätzung wie folgt beantworten:
Einleitend kann ich Ihnen mitteilen, dass man zwischen der derzeitigen, d.h. lebzeitigen Rechtsposition und der Rechtsposition nach dem Tod des Vaters unterscheiden muss.
Zu Lebzeiten Ihres Vaters bestehen keinerlei Rechte an oder auf das Erbe, auch die im Laienmund oft benannte "Auszahlung des Erbes" ist eine reine gegenseitige Vereinbarung die der Mitwirkung des "Erblassers" bedarf und auf die kein Rechtsanspruch besteht.
Insofern darf ich Ihre gestellten Fragen der Übersichtlichkeit halber hier erneut einstellen und jeweils unter der jeweiligen Frage die Antwort platzieren:
1. Was hätte man im Vorfeld anders machen können, damit ich nicht im Nachteil bin bei einer Hausübertragung? Ich kenne von anderen Fällen, dass man dann das Haus schätzt und ein Geschwisterteil das andere auszahlt. Meine Schwester hat jedoch kein Geld, sie studiert seit ca. 12 Jahren mit Unterbrechungen Medizin. Mein Vater hat nach eigenen Angaben ein Vermögen von etwa 30.000 €.
Wie Sie richtig sagen, ist eine häufig anzutreffende Variante, dass das eine Kind die Immobilie erhält und das andere Kind hierfür mit einer bestimmten Summe ausbezahlt wird. Allerdings besteht hierauf zu Lebzeiten kein Anspruch, sondern es liegt am "Erblasser" ob dieser eine solche Lösung möchte oder nicht. Zu Lebzeiten kann der Erblasser über sein Vermögen verfügen, auch wenn er dies bspw. vollständig verschenkt oder ausgibt ohne dass Ihnen zu Lebzeiten Rechte hieran zustehen. Insofern hätten Sie ausser den Versuch mit Ihrem Vater über die Übertragung zu verhandeln nicht viel machen können, wenn die Übertragung so von ihm gewollt war, hatten Sie keine Möglichkeit dies zu verhindern.
2. Was kann man jetzt noch machen, da die Übertragung schon stattgefunden hat? Nun steht mir wohl nur noch der Pflichtteil von 25 % im Erbfall zu? Kann man testamentarisch etwas machen? Theoretisch könnte es ja sein, dass im Erbfall kaum noch Barvermögen vorhanden sein wird, wenn er noch Geld ins Haus investieren soll oder er zum Pflegefall wird und er dann doch in ein Heim muss.
Sie selbst können derzeit nichts machen. Wie Sie richtig ausführen steht Ihnen nach dem Tod des Vaters der Pflichtteil zu, aber eben auch erst dann. Ihr Vater wiederum könnte möglicherweise die Übertragung rückgängig machen, hierbei kommt es aber auf den Übertragungsvertrag zwischen Ihrem Vater und Ihrer Schwester und vor allem darauf an, ob er dies überhaupt rückgängig machen möchte. Es besteht also tatsächlich die Gefahr, dass zum Erbfall kein oder kaum noch Vermögen vorhanden ist, welches Sie erben, sei es als gesetzliche Erbin aber auch falls Ihr Vater Sie nun als Alleinerbin einsetzen würde, ergäbe sich keine Änderung. Auch ein 100%-iges Erbe richtet sich nach dem Nachlasswert zum Todeszeitpunkt, d.h. sofern nichts mehr vorhanden ist, gibt es eben kein Erbe, sondern nur den Pflichtteilsergänzungsanspruch der auch Schenkungen wie die vorliegende umfasst, solange 10 Jahre noch nicht abgelaufen sind. Allerdings wird die Schenkung pro abgelaufenem Jahr mit je 10% weniger Wert berücksichtigt.
3. Wie geht man bei einer Hausschätzung vor, dass sie auch gerecht und real ist? Bei der Übertragung wurde ein Haus-/Grundstückswert von 90.000 € festgelegt. Es war jedoch kein offizieller Gutachter da, nur ein Makler, der meinte, dass er das Haus versuchen würde für 160.000 € zu verkaufen, sagte angeblich jedoch, „eigentlich" wäre Haus u. Grund nur 100.00 € wert, das Grundstück allein jedoch 90.000 €, (Baujahr 1970). Was soll man davon halten?
Den Verkehrswert eines Grundstücks mit Gebäude kann man nur mittels Sachverständigengutachten seriös ermitteln, im Falle eines Pflichtteilsergänzungsanspruches haben Sie sogar einen Anspruch auf Kostenerstattung für dieses Gutachten.
4. Welche Bedeutung hat die Festlegung von 90.000 € Gesamtwert bei der Hausübertragung in Bezug auf erbrechtliche Überlegungen? Hat dies Bestand, obwohl kein Gutachter da war? Wird das Haus dann geschätzt, wenn der Erbfall eintritt?
Bei der Geltendmachung Ihres Pflichtteilsergänzungsanspruches nach dem Tod des Vaters würde ein Gutachten eingeholt werden um den Anspruch der Höhe nach zu belegen. Die jetzige Festsetzung gilt somit allenfalls als Richtschnur ohne verbindlich zu sein.
5. Was ist wenn mein Vater länger als 10 Jahre lebt (was ich natürlich hoffen will), verfällt dann mein Erbrecht auf den Pflichtteil oder bleibt er bestehen, da meinen Vater ein Wohnrecht auf Lebenszeit eingetragen wurde?
10 Jahre nach der Schenkung wird der Wert der Schenkung bei dem Pflichtteilsergänzungsanspruch nicht mehr berücksichtigt, in den Jahren zuvor jeweils um 10% weniger pro abgelaufenem Jahr. Sollten 10 Jahre abgelaufen sein bemisst sich Ihr Erbrecht oder Pflichtteilsanspruch dann nur noch nach dem vorhandenen Vermögen.
6. Wie geht man vor, wenn es einmal zum Erbfall kommt, sollte man sich früh genug um einen Anwalt bemühen, auch schon im Vorfeld, da abzusehen ist, das es keine Einigung in Bezug auf den Wert etc. geben wird?
Sollte der Erbfall eintreten sollten Sie sich anwaltlich vertreten lassen. Zum einen muss dann geklärt werden, ob Sie Erbe oder Pflichtteilsberechtigte sind und ob möglicherweise noch ein Pflichtteilsergänzungsanspruch besteht und insbesondere in welcher Höhe. Auf Grund der Komplexität solcher Angelegenheiten sollten Sie sich dann so früh wie möglich anwaltlich vertreten lassen.
Ich hoffe, Ihre Frage verständlich beantwortet zu haben und bedanke mich für das entgegengebrachte Vertrauen. Bei Unklarheiten können Sie die kostenlose Nachfragefunktion benutzen.
Mit freundlichen Grüßen
Holger J. Haberbosch, Rechtsanwalt