Sehr geehrter Fragesteller,
Ihre Anfrage möchte ich Ihnen auf Grundlage der angegebenen Informationen verbindlich wie folgt beantworten:
1. Liege ich mit meiner Argumentationsschiene richtig? Sind die Ansprüche mittlerweile verjährt? Ist der Verwaltungsakt nichtig? Oder hat der ÖRR tatsächlich einen rechtskräftigen, 30jährigen Titel gegen mich?
a) Verjährung der Rundfunkbeiträge
Die Verjährung von Rundfunkbeitragsforderungen richtet sich nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), insbesondere nach § 195 BGB, wonach die regelmäßige Verjährungsfrist drei Jahre beträgt.
Die Frist beginnt mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den anspruchsbegründenden Umständen Kenntnis erlangt hat oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangen müssen (§ 199 BGB).
Wichtig ist jedoch: Sobald ein Festsetzungsbescheid (Verwaltungsakt) erlassen und bestandskräftig wird, gilt nicht mehr die dreijährige Verjährung, sondern die Vollstreckungsverjährung von 30 Jahren.
Das bedeutet: Wurde ein Festsetzungsbescheid wirksam zugestellt und ist er bestandskräftig geworden (weil kein Widerspruch oder keine Klage erhoben wurde samt Aufhebung), kann aus diesem Titel 30 Jahre lang vollstreckt werden.
In Ihrem Fall haben Sie gegen den Festsetzungsbescheid von April 2019 fristgerecht Widerspruch eingelegt. Ein Widerspruchsbescheid wurde aber erst im Januar 2023 erlassen. Erst mit Zugang des Widerspruchsbescheids beginnt die Klagefrist zu laufen. Solange das Widerspruchsverfahren läuft, wird die Bestandskraft des ursprünglichen Bescheids gehemmt. Erst wenn Sie nicht innerhalb der Klagefrist gegen den Widerspruchsbescheid klagen, wird der Bescheid bestandskräftig und damit vollstreckbar mit 30-jähriger Verjährung.
b) Nichtigkeit des Verwaltungsakts wegen Automatisierung
Sie führen an, dass der Festsetzungsbescheid möglicherweise nichtig sei, weil er vollautomatisiert erlassen wurde und damit nicht den Formvorschriften des § 37 VwVfG entspricht.
Es gibt vereinzelt Urteile, die die Formvorschriften für Verwaltungsakte betonen, aber die überwiegende Rechtsprechung erkennt auch automatisiert erlassene Bescheide als wirksam an, solange sie die Mindestanforderungen erfüllen (z.B. Erkennbarkeit der erlassenden Behörde, Begründung, Rechtsbehelfsbelehrung).
Letztlich müsste jeder Bescheid gesondert dahingehend geprüft werden.
Die Nichtigkeit eines Verwaltungsakts ist nach § 44 VwVfG nur bei besonders schwerwiegenden Fehlern gegeben, was bei automatisierten Bescheiden nach aktueller Rechtsprechung regelmäßig verneint wird.
c) Zusammenfassung
- Solange Sie gegen die Widerspruchsbescheide noch Klage erheben können, ist der Verwaltungsakt nicht bestandskräftig und damit auch kein 30-jähriger Vollstreckungstitel entstanden.
- Die Einrede der Verjährung ist nur für Zeiträume relevant, für die noch kein bestandskräftiger Bescheid existiert. Für Zeiträume, die durch einen bestandskräftigen Bescheid abgedeckt sind, gilt die 30-jährige Vollstreckungsverjährung.
- Die Argumentation der Nichtigkeit wegen Automatisierung ist rechtlich nicht eindeutig durchsetzbar, aber als Klagebegründung vertretbar. Die Erfolgsaussichten sind jedoch eher gering, da die Gerichte automatisierte Bescheide in der Regel anerkennen.
2. Wo ist die Klage zu erheben? Berlin oder Bremen?
Maßgeblich ist, gegen welchen Bescheid Sie klagen wollen und welche Behörde diesen erlassen hat. Nach § 52 Nr. 3 VwGO ist das Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk die Behörde ihren Sitz hat, die den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat.
- Gegen den RBB-Bescheid aus Januar 2023 wäre das Verwaltungsgericht Berlin zuständig, da der RBB seinen Sitz in Berlin hat.
- Gegen den jüngsten WDR-Bescheid (nach Umzug nach Bremen) wäre das Verwaltungsgericht Köln zuständig, da der WDR seinen Sitz in Köln hat. Sollte der Bescheid aber von der Landesrundfunkanstalt Bremen, Radio Bremen, stammen, wäre das VG Bremen zuständig.
Da Sie nach Bremen verzogen sind und der WDR nun eine abschließende Gesamtforderung stellt, die sich auch auf die Rechtmäßigkeit des RBB-Bescheids stützt, ist zu prüfen, ob der neue Bescheid einen eigenen Regelungsgehalt hat oder lediglich die Forderung des RBB übernimmt. In der Regel ist gegen jeden Bescheid der Klageweg zu beschreiten, der von der jeweiligen Landesrundfunkanstalt erlassen wurde.
3. Einschätzung der Erfolgsaussichten einer Anfechtungsklage
- Die Erfolgsaussichten einer Klage gegen die Rundfunkbeiträge sind grundsätzlich gering, wenn die Beitragspflicht dem Grunde nach besteht und die Bescheide formell und materiell rechtmäßig sind.
- Die Einrede der Verjährung kann Erfolg haben, wenn für bestimmte Zeiträume keine bestandskräftigen Bescheide existieren und die Forderungen nicht rechtzeitig geltend gemacht wurden.
- Die Argumentation der Nichtigkeit wegen Automatisierung ist rechtlich vertretbar, aber nach aktueller Rechtsprechung wenig erfolgversprechend.
- Die von Ihnen vorgebrachten Grundrechtsargumente (informelle Selbstbestimmung, Religionsfreiheit etc.) sind in der Rechtsprechung bislang nicht durchgedrungen.
Fazit:
- Sie sollten innerhalb der Klagefrist Klage gegen die Widerspruchsbescheide erheben, wenn Sie die Forderungen nicht akzeptieren wollen.
- Die Klage ist jeweils bei dem Verwaltungsgericht zu erheben, in dessen Bezirk die erlassende Landesrundfunkanstalt ihren Sitz hat.
- Die Einrede der Verjährung ist für Zeiträume ohne bestandskräftigen Bescheid erfolgversprechend, ansonsten gilt die 30-jährige Vollstreckungsverjährung.
- Die Argumentation der Nichtigkeit wegen Automatisierung ist rechtlich vertretbar, aber wenig aussichtsreich.
- Die Erfolgsaussichten einer Anfechtungsklage sind insgesamt als eher gering einzuschätzen, sofern die Beitragspflicht dem Grunde nach besteht und die Bescheide formell ordnungsgemäß erlassen wurden.
Für weitere Details zu einzelnen Zeiträumen oder zur konkreten Klagebegründung stehe ich gerne zur Verfügung.
Ich hoffe, Ihre Frage verständlich beantwortet zu haben und bedanke mich für das entgegengebrachte Vertrauen. Bei Unklarheiten können Sie die kostenlose Nachfragefunktion benutzen.
Mit freundlichen Grüßen
Antwort
vonRechtsanwalt Daniel Hesterberg
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Rechtsanwalt Daniel Hesterberg
Sehr geehrter Herr RA Daniel Hesterberg
vielen Dank, für Ihre fundierte, ausführliche Antwort!
Was ich nicht verstehe: Bei dem ersten Ablehnungsschreiben aus 2019 wurde nahezu in keiner Weise auf die Argumentation meinen Widerspruchs eingegangen. Teilweise handelt es sich dabei um Gründe, die angesichts der Geschehnisse der letzten Jahre und Berichterstattung im ÖRR sogar noch massiv bestätigt wurden.
Das nicht als Widerspruchsbescheid titulierte Antwortschreiben des Beitragsservice aus 2019, kann meines Erachtens nicht als formell ordnungsgemäß erlassener Bescheid mit Bestandskraft gesehen werden, oder?
Sie schreiben sehr richtig:
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In Ihrem Fall haben Sie gegen den Festsetzungsbescheid von April 2019 fristgerecht Widerspruch eingelegt. Ein Widerspruchsbescheid wurde aber erst im Januar 2023 erlassen.
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Warum kann der Beitragsservice das Thema 40Monate später wieder ausrollen? Noch dazu, wo man mein Zahlungsangebot unbeantwortet gelassen hat? In meinen Augen lag bis dato kein ordnungsgemäßer Widerspruchsbescheid vor, so dass die Ansprüche seit 12.2022 verjährt sind, oder etwa nicht?
Was den Klageort anbelangt: Der neue, abschließende Bescheid von Radio Bremen, stützt sich in Bezug auf die Beitragspflicht 03.2017-04.2019 auf die Rechtmäßigkeit des RBB Bescheids, fügt aber auch einen eigenen Regelungsgehalt (z.B. die teilweise Anerkennung von Zeiten der Verjährungen oder Befreiung) hinzu.
Meine Frage stellte sich dahingehend, ob eine erfolgreiche Klage gegen den RBB auch die zusammenfassende Forderungssumme des Radio Bremen Bescheid nichtig machen würde? Oder ob die Gesamtforderung automatisch als anerkannt gilt, wenn ich nicht auch dem Bremer Bescheid widerspreche?
Vielen Dank im Voraus für die Beantwortung meiner Verständnisfrage!
Mit freundlichen Grüßen
Sehr geehrter Fragesteller,
bitte haben Sie Verständnis dafür, dass hier im Rahmen der Erstberatung das nicht komplett zu Ende geprüft werden kann, das geht weit über den Rahmen einer Erstberatung hinaus.
Jedenfalls kann ich so viel mitteilen:
Wenn der neue, abschließende Bescheid von Radio Bremen einen eigenen Regelungsgehalt hat (z.B. teilweise Anerkennung von Verjährung oder Befreiung), handelt es sich um einen eigenständigen Verwaltungsakt. Eine erfolgreiche Klage gegen den RBB-Bescheid würde nicht automatisch den Bescheid von Radio Bremen nichtig machen. Sie müssten auch gegen den Bescheid von Radio Bremen vorgehen, um dessen Bestandskraft zu verhindern. Andernfalls würde die dort festgesetzte Forderung bestandskräftig, selbst wenn der RBB-Bescheid aufgehoben wird. Dies ergibt sich aus dem allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht: Jeder Verwaltungsakt ist für sich zu bekämpfen, wenn er einen eigenen Regelungsgehalt hat.
Ich hoffe, Ihnen damit gedient zu haben.
Mit freundlichen Grüßen