Sehr geehrte Fragestellerin,
Ihre Anfrage möchte ich Ihnen auf Grundlage der angegebenen Informationen verbindlich wie folgt beantworten:
Das Konkurrenzverhältnis von Jugendhilfe und Eingliederungshilfe regelt § 10 Abs. 4 Satz 2 Alt. 2 des Sozialgesetzbuches VIII (SGB VIII).
Bei Mehrfachbehinderungen (seelische und körperliche/geistige Behinderung) kann die Zuordnung zu einem Leistungsträger im Einzelfall schwierig sein. Die maßgebliche Vor- und Nachrangregelung in § 10 Abs. 4 stellt nicht darauf ab, welche Hilfeleistung den Schwerpunkt bildet, sondern allein auf die Art der miteinander konkurrierenden Leistungen (BVerwG, Urt. v. 23.09.1999 – 5 C 26.98, BVerwGE 109, 325 = ZfJ 2000, 191 = NJW 2000, 1206 = SjE E I 12, S. 321f; Bay. VGH, Beschl. v. 24.02.2014 – 12 ZB 12.715, ZKJ 2014, 214 = JAmt 2014, 586). Im Rahmen dieser Vorrang-Nachrang-Regelung ist nur eine Konkurrenz gleichartiger Leistungspflichten und keine Identität der Anspruchsberechtigten erforderlich (BVerwG, Urt. v. 19.10.2011 – 5 C 6/11, JAmt 2012, 47 = FEVS 63, 539 = SjE E I 11, S. 89t). Konkurrieren Jugendhilfeleistungen mit den in § 10 Abs. 4 Satz 2 genannten gleichartigen Maßnahmen der Eingliederungshilfe für körperlich oder geistig behinderte Kinder, so ist Sozialhilfe vorrangig, konkurrieren Jugendhilfeleistungen mit anderen (als den in § 10 Abs. 4 Satz 2 genannten) Sozialhilfeleistungen, so ist nach § 10 Abs. 4 Satz 1 die Jugendhilfe vorrangig. Dies gilt aber nur für konkurrierende gleichartige Leistungen. Somit schließt die Gewährung vorrangiger Leistungen der Eingliederungshilfe für körperlich und geistig Behinderte nach dem SGB XII andersartige Leistungen der Jugendhilfe nicht aus, z.B. die Gewährung von Vollzeitpflege in einer Pflegestelle, wenn die notwendige Betreuung sich nicht aus der Behinderung ergibt, sondern aus dem erzieherischen Versagen der Eltern (OVG Niedersachsen, Beschl. v. 10.10.1997 – 12 L 549/97, FEVS 48, 281 = DAVorm 1998, 143 = E I 17, S. 161; so auch Fuchs/Habermann, NDV 1993, 52, 53 f.).
(Schellhorn/Fischer/Mann/Kern, SGB VIII - Kinder- und Jugendhilfe - Kommentar, 5. Auflage 2016, § 35a SGB VIII, Rn. 41)
Wenn es also um gleichartige Leistungen geht, wäre ab September für Ihre Tochter das Landessozialamt (Nds. Landesamt für Soziales, Jugend und Familie) zuständig.
Die Fragestellung ist aber komplex und hängt maßgeblich von der gewährten Leistung im Einzelfall ab:
Leistungen in Wohnheimen für Kinder und Jugendliche können sowohl Hilfen zur Erziehung in Form von Heimerziehung oder in einer sonstigen betreuten Wohnform gem. §§ 27, 34 SGB VIII sein als auch Eingliederungshilfeleistungen gem. § 35a Abs. 2 Ziff. 4 SGB VIII oder § 113 ff. SGB IX.
Je nach Zielsetzung erfasst der Heimbegriff bei den Hilfen zur Erziehung unterschiedliche Settings wie Wohngruppen, Familiengruppen, Erziehungsstellen, Kleinstheime oder auch Jugendwohngemeinschaften. Der Begriff der sonstigen betreuten Wohnform wird als Sammelbegriff für alle Wohnformen genutzt, die sich aus der klassischen Heimerziehung oder aus sonstigen Wohnformen entwickelt haben. Dazu zählen beispielsweise betreute Wohngemeinschaften, betreutes Einzelwohnen oder Kinder- und Jugenddörfer. Die sonstige betreute Wohnform unterscheidet sich von der Heimerziehung im Wesentlichen durch ihre Zielsetzung. Während Heimerziehung in der Regel auf die Rückführung in die Herkunfts- oder in eine andere Familie gerichtet ist, dient das betreute Wohnen vorrangig dem Ziel der Verselbständigung.
Das Verhältnis der Hilfe zur Erziehung nach den §§ 27 ff. SGB VIII zur Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII ist in der Rechtsprechung umstritten. Zum Teil wird vertreten, dass bei einem Kind, dem bereits Hilfe zur Erziehung gewährt wird und bei dem sich ein zusätzlicher Bedarf aufgrund einer seelischen Behinderung ergibt, zunächst zu prüfen sei, ob dieser zusätzliche Bedarf mit der Hilfe zur Erziehung gedeckt werden könne. Dieses sei dann möglich, wenn sich der zusätzliche Bedarf als Annex zu dem bisherigen Hilfebedarf darstelle und von den Hilfearten nach den §§ 27-35 SGB VIII abgedeckt werde. Reiche die Hilfe zur Erziehung jedoch nicht aus, um den Bedarf zu decken, müsse ergänzend Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII gewährt werden. Wenn sich erzieherischer und behinderungsspezifischer Bedarf eindeutig voneinander trennen lassen, dann ist eine Kombination beider Hilfen immer möglich. Diese Folge entspricht der grundsätzlichen Regelung in § 35a Abs. 4 SGB VIII, wonach die Eingliederungshilfe nicht in einem Ausschließlichkeitsverhältnis zu den Hilfen zur Erziehung steht (vgl. DIJuF-Rechtsgutachten v. 23.04.2018 - SN_2018_0042 Bm, JAmt 2018, 204, 205).
Nach anderer Auffassung wird ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung dann abgelehnt, wenn ein erzieherischer Bedarf an einer vollstationären Unterbringung später eine vollstationäre Unterbringung in einer Einrichtung der Eingliederungshilfe nach den §§ 53 ff. SGB XII (aF, seit 1.1.2020 § 90 ff SGB IX) erfordere. In diesen Fällen ende die Hilfe zur Erziehung in der Form der Vollzeitpflege nach den §§ 27, 33 SGB VIII und es entstehe ein Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII.
Da das Zuständigkeitsverfahren des § 14 SGB IX gilt, muss, wenn der erstangegangene Reha-Träger den Antrag fristgerecht an einen zweiten Reha-Träger weitergeleitet hat, letzterer über den Antrag entscheiden, wenn nicht mit Zustimmung eines dritten Reha-Trägers der Antrag dann an diesen fristgerecht weitergeleitet werden kann.
Es gilt allerdings auch das Nachrangigkeitsprinzip für die Eingliederungshilfe nach dem SGB IX. Danach bleiben Verpflichtungen anderer, insbesondere der Träger anderer Sozialleistungen, unberührt. Nach § 91 Absatz 1 Satz 2 SGB IX dürfen Leistungen anderer nicht deshalb versagt werden, weil die Eingliederungshilfe des SGB IX entsprechende Leistungen vorsieht; dies gilt insbesondere bei einer gesetzlichen Verpflichtung der Träger anderer Sozialleistungen oder anderer Stellen, in ihrem Verantwortungsbereich die Verwirklichung der Rechte für Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten oder zu fördern.
Im Ergebnis können bei Kindern und Jugendlichen beide Leistungen in Betracht kommen, wobei zunächst die Zielsetzung der Maßnahme maßgeblich ist. Aufgrund der Tatsache, dass der Jugendhilfeträger auch Reha-Träger gem. § 6 Abs. 1 Ziff. 6 SGB IX ist, findet das Zuständigkeitsklärungsverfahren des § 14 SGB IX Anwendung.
(Projekt „Umsetzungsbegleitung Bundesteilhabegesetz", c/o Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V., https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/bthg-kompass/bk-schnittstellen/egh-kjh/fda-m9860/)
Verbindlich lässt sich die Frage nur in Kenntnis der Aktenlage beantworten. Ich empfehle, das Jugendamt aufzufordern, seine Zuständigkeit anhand des aufgezeigten Rechtsrahmens zu begründen.
Ich hoffe, Ihre Frage verständlich beantwortet zu haben, und bedanke mich für das entgegengebrachte Vertrauen. Bei Unklarheiten können Sie die kostenlose Nachfragefunktion benutzen.
Mit freundlichen Grüßen
Antwort
vonRechtsanwalt Gero Geißlreiter
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