Sehr geehrter Fragesteller,
Ihre Anfrage möchte ich Ihnen auf Grundlage der angegebenen Informationen verbindlich wie folgt beantworten:
Zunächst einmal möchte ich mein außerordentliches Bedauern zu diesem Fall äußern.
Leider wird man, und das finde ich besonders schlimm, mit behinderten Kindern in der BRD oft allein gelassen und muss hart um die Rechte kämpfen.
Nun zu Ihrer Frage, ob ein Weg über § 20 SGB VIII
gangbar ist und welche Alternative es gäbe.
1. § 20 SGB VIII
§ 20 SGB VIII
soll die Erziehung eines Kindes in häuslichen Bereich sicherstellen, wenn der überwiegend erziehende Elternteil (§ 20 Abs. 1), der allein erziehende Elternteil (§ 20 Abs. 2) oder beide Elternteile (§ 20 Abs. 2) durch Krankheit oder aus anderen zwingenden Gründen ausfällt.
Für diesen Bedarf sind ferner in der gesetzlichen Krankenversicherung Leistungen vorgesehen: die Stellung einer Haushaltshilfe (§ 38 SGB V
) und das Kinderpflegekrankengeld (§ 38 SGB V
). Diese Leistungen sind gegenüber der Leistung nach § 20 vorrangig.
Das bedeutet, dass nach dem sozialrechtlichen Subsidiaritätsprizip zunächst Leistungen bei anderen Trägern beantragt werden müssen und erst bei Ablehnung die LEistungen nach dem SGB VIII greifen.
2.
1. Alternative
§ 20 SGB VIII
verweist auf § 38 SGB V
, das Krankenversicherungsgesetz.
Als Leistungen nach § 38 Abs.1 SGB V
käme eine häusliche Krankenpflege nach § 37 SGB V
allerdings nur für 4 Wochen.
Daher halte ich diesen Weg auch für wenig gangbar.
2. Alternative
Das Kind hat eine Pflegestufe.
Daher käme eine Nachtpflege nach § 41 SGB XI
in Betracht.
Hierzu kann die zu pflegende Person über Nacht in eine Pflegeeinrichtung gebracht werden.
Das muss aber bei der Pflegekasse entsprechend beantragt werden, respektive sollten Sie hierfür eine entsprechende Einrichtung an der Hand haben, die die Nachtpflege, auch teilweise, muss nicht dauerhaft sein, übernimmt.
Da es Ihnen beiden als Pflegepersonen nicht gut geht, können Sie im Rahmen der Verhinderungspflege einmal jährlich das Kind für bis zu 4 Wochen in die Verhinderungspflege nach § 39 SGB XI
geben.
Die Verhinderungspflege ist sogar stundenweise möglich.
Auf einen Grund für die Verhinderung kommt es nach dem Wortlaut („… aus anderen Gründen") der Norm nicht an. Beispielhaft werden der Erholungsurlaub und eine krankheitsbedingte Verhinderung genannt. Zwar führen die Gesetzesmaterialien (BT-Drucks. 12/5262
S. 113) aus, dass es sich um einen „wichtigen Grund" handeln soll. Dies ist aus der Sichtweise der Pflegeperson heraus zu beurteilen. Daher haben die Pflegekassen jeden plausiblen Grund anzuerkennen. So ist eine Beziehungskrise oder ‑störung, eine ortsabwesende Berufstätigkeit, oder ein Urlaub während der Ferien eines Kindes als anderer Grund anzuerkennen. Auf die Gründe kommt es nach allem nicht entscheidend an (so auch Rehberg in Hauck/Noftz Rn 3). Entscheidend ist, dass die Pflege des Pflegebedürftigen tatsächlich nicht ausreichend sichergestellt werden kann. Mit der Ersatzpflege wurde ausdrücklich eine Leistung geschaffen, mit der individuell und flexibel auf Veränderungen in den Rahmenbedingungen der häuslichen Pflege reagiert werden kann (Klie/Kramer/Planzholz, Kommentar zum SGB XI, § 39 Rn. 6).
Über diese Verhinderungspflege, die bspw. für Urlaub gilt, könnten Sie die Pflege und Ihre Erholungsphasen so gestalten, dass Sie sich erholen können.
Sollten Sie Hilfe bei der Durchsetzung Ihrer Rechte benötigen, stehe ich Ihnen gerne zur Seite.
Ich hoffe, Ihre Frage verständlich beantwortet zu haben und bedanke mich für das entgegengebrachte Vertrauen. Bei Unklarheiten können Sie die kostenlose Nachfragefunktion benutzen.
Mit freundlichen Grüßen
Sehr geehrter Herr Grübnau-Rieken,
vielen Dank für Ihre sehr zügige und übersichtliche/ nachvollziehbare Beantwortung meiner Frage. Bei mir haben sich noch Anschlussfragen ergeben, die ich im Folgenden schildern möchte. Leider geht die (von mir getrennt lebende) Kindesmutter recht sparsamen mit Infos darüber um, welche Leistungen sie wofür einsetzt. Daher habe ich auch noch Fragen zu Leistungen, die vermutlich bereits bezogen werden, deren Hintergrund mir allerdings nicht voll bekannt ist.
1. §20 SGB VIII
:
Stellt Ihrer Ansicht nach der §20 SGB VIII
dennoch eine realistische/aussichtsreiche Option dar? Als wir damals den Antrag beim für uns zuständigen Jugendamt gestellt haben, habe ich zum §20 etwas recherchiert und folgendes gefunden:
www.dji.de/bibs/64_12094_Expertise_Zerfass_HOT.pdf
www.berlin.de/imperia/md/content/sen-jugend/rechtsvorschriften/jugend_rs_3_2011_fampfleg_notsit.pdf?start&ts=1331043115&file=jugend_rs_3_2011_fampfleg_notsit.pdf
www.deutscher-verein.de/05-empfehlungen/empfehlungen_archiv/2003/pdf/Unterstuetzung_von_Familien_in_Krisensituationen.pdf
Möglicherweise stecken hier brauchbare Infos drin. Ich bin leider kein Jurist und somit nicht so fit in der Materie, wie ich es mir wünschte. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie dies prüfen würden. Sinn und Zweck der Hilfe gem. §20 SGB VIII
ist meiner Auffassung schließlich auch eine schnelle und unkomplizierte Gewährung im akuten Notfall, ggf. auch bis zur Abklärung eigentlich vorrangiger Hilfen. Diesem Verständnis zufolge könnte erst einmal schnell geholfen werden, während z.B. die Beantragung der von Ihnen genannten Nachtpflege läuft bzw. auf einen Platz gewartet wird oder andere Alternativen geprüft werden.
2. Nachtpflege:
Ich könnte mir vorstellen, dass es schwierig wird, eine Einrichtung der Nachtpflege für ein Kind zu finden – zumindest hier im ländlichen Grenzbereich Münsterland/Ruhrgebiet. Was ist, wenn das Angebot nicht gegeben ist? Hat man einen Anspruch auf eine Alternative?
3. Verhinderungspflege:
Wie viele Stunden umfasst die Verhinderungspflege, wenn man sie stundenweise nutzt? 28x24 Stunden? Ist es richtig, dass die VP nur für Hilfen über einen (wie auch immer) zertifizierten Träger genutzt werden darf? Also nicht für die Studentin, die sich einfach so etwas dazuverdienen möchte? Bei den besonderen Betreuungsleistungen (200 Euro) für unsere Tochter ist die Verwendung, soweit ich weiß, nicht an so strikte Bedingungen geknüpft. Ein Träger wie die Lebenshilfe kostet natürlich mindestens das Doppelte in der Stunde, aber die Leistung ist nicht zwingend doppelt so gut.
4. Kurzzeitpflege:
Welche Rolle kann Kurzzeitpflege spielen? Die Pflegeversicherung kann meinem Kenntnisstand zufolge Kurzzeitpflege bis zu vier Wochen (28 Tage) im Jahr und bis zu 1.550 Euro gewähren. Ich habe mal gehört, dass, wenn dieses Budget aufgebraucht ist, der LWL für darüber hinaus gehende Nutzung der Kurzzeitpflege angegangen werden kann. Stimmt das? Was wären in diesem Fall die Voraussetzungen und die zu erwartenden Leistungen?
5. Krankenversicherung:
Unsere Kinder sind über meine Frau (verbeamtete Lehrerin, Teilzeit) privat versichert. Während der ersten Monate auf der Frühchenintensivstation war dies natürlich ein Segen. Nun ist es ein Fluch, wenn irgendein Hilfsmittel für unsere Tochter angeschafft werden muss und Pflegeversicherung (debeka) sowie Beihilfe die Kosten übernehmen sollen. Wir haben schon oft gehört, dass die gesetzlichen Kassen unkomplizierter seien in dieser Hinsicht. Allerdings hat mir meine GKV mitgeteilt, dass ein Wechsel der Kinder zu meiner Krankenkasse nicht möglich sei, bzw. erst dann, wenn meine Frau ihren Beamtenstatus nicht mehr habe. Ist es wirklich so, dass hier keine Möglichkeiten bestehen?
6. Relevanz des Betreuungsaufwandes in der Nacht für die Pflegebegutachtung:
Immer wieder denken wir uns, dass mit viel Geld viel Hilfe zu bekommen wäre. Also wäre es natürlich schön, wenn unsere Tochter die Pflegestufe 3 anerkannt bekäme. Immer wieder sagen uns Ärzte oder andere Fachleute, mit denen wir zu tun haben, dass sie unsere Tochter durchaus für so pflegebedürftig halten. Allerdings sagen der MDK bzw. die Pflegekasse, dass die Betreuung der schlaflosen Zeiten in der Nacht (zuweilen über 5 Stunden, selten unter 2 Stunden) nicht unter die Verrichtungen der Grundpflege fällt. Immerhin könnte man doch meinen, dass es um das „Zu-Bett-gehen" gem. §14 SGB XI
Abs. 4 S. 3 geht. Es ist schließlich nachts stets unsere Absicht, unsere Tochter wieder in den Schlaf zu bekommen, da sie diesen zum Gedeihen und zur Regeneration etc. benötigt. Sie muss in der Nacht gerne auch mal öfter ins Bett gebracht werden. Hierbei handelt es sich oft um eine Prozedur, die – wenn alles gut läuft – mit Hochnehmen, Beruhigen auf dem Hüpfball, ein paar Schlücken Milch aus der Flasche, weiterem Hüpfen auf dem Ball zum Einschlafen, Ablegen ins Bett, erneutem Beruhigen durch rhythmisches Schulterklopfen und In-Form-Haltens der Beine (bedenke Streckmuster der Spastik, wenn sie wach ist) nach Erwachen durch Ablegen, Zudecken und erneutem Beruhigen nach Erwachen durch Haptikveränderung durch Bettdecke usw. mindestens eine halbe Stunde dauert.
Ich danke Ihnen sehr herzlich für die Unterstützung!
Mit freundlichen Grüßen aus dem Münsterland
Sehr geehrter Ratsuchender,
Ihre (umfangreichen) Nachfragen gehen teilweise über die Ausgangsfragestellung hinaus, da Sie nach § 20 SGB III
gefragt haben, so dass ich nach den AGB des Plattformbetreibers nicht verpflichtet bin, auf neue Aspekte einzugehen.
So kann ich im Rahmen einer Erstberatung nicht eine mehrseitige Abhandlung der Caritas lesen.
Dennoch beantworte ich Ihre Fragen wie folgt:
1.
Es gilt das sogenannte Subsidiaritätsprinzip.
Das bedeutet, dass § 20 SGB VIII
nachrangig nach anderen Leistungen des Sozialrecht wie der Pflegeversicherung ist.
Sie können die Leistungen dennoch parallel beantragen.
Sollte diese Leistung abgelehnt werden, müsste man in einem sozialgerichtlichen Verfahren ohnehin die anderen Träger beiladen.
Das Gericht wird aber fragen,welche anderen Leistungen Sie ausgeschöpft haben und wenn das nicht der Fall sein sollte, dann wird das Gericht eine solche Klage wohl eher abweisen.
2.
Man hat bei Sozialleistungsträgern ein Wunsch und Wahlrecht aber keinen Anspruch, da die Pflegekassen, sowohl die gesetzliche und viel mehr die private als gewinnorientierte Unternehmen, dem Wirtschaftlichkeitsgebot unterliegen.
Einen Anspruch hat man daher nicht.
3. Verhinderungspflege.
Man kann sich auch anderen als zertifizierten Trägern bedienen.
Bei den Personen, welche die Verhinderungspflege übernehmen, muss es sich nicht um eine ausgebildete Pflegekraft handeln. Es ist ein Nachweis über die angefallenen Kosten vorzulegen, zB Quittungen, Kontoauszüge, Belege über den Verdienstausfall (Gem. RdSchr. der PK zu den leistungsrechtlichen Vorschriften v. 17.4.2013 § 39 Ziff. 2.6).
4. Kurzzeitpflege:
Wer ist der LWL?
Nach § 42 SGB XI
kann die Kurzzeitpflege bei einer Krisensituation genutzt werden.
Dieser Anspruch ist auf 4 Wochen pro Jahr beschränkt.
Unter einer Krisensituation wird eine Sachlage zu verstehen sein, bei welcher der Eintritt unvorhergesehener und unregelmäßiger Umstände die Fortsetzung der häuslichen Pflege für einen bestimmten Zeitraum unmöglich macht. Der Gesetzesbegründung sind Beispiele für Krisensituationen zu entnehmen. Genannt werden zum einen der völlige Ausfall der Pflegeperson oder eine kurzfristig erhebliche Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit und zum anderen Zeiten der Verhinderung der Pflegeperson wegen Krankheit, Urlaub oder aus sonstigen Gründen (BT-Drs. 12/5262
, 115).
5. Krankenversicherung:
Nein, es besteht keine Möglichkeit zum Wechsel, da der Stammversicherte privat Krankenversichert ist.
Wenn Sie das Kind zu sich nach Hause holen (dauerhaft) und Sie gesetzlich krankenversichert sind, dann kann ein Wechsel gelingen.
Jedoch sind die privaten Kassen verpflichtet, die gleichen Leistungen zu gewähren wie die gesetzlichen Pflegekassen.
Das ist ein Irrglaube, dass man als privatversicherter Pflegebedürftiger besser gestellt ist.
6. Relevanz des Betreuungsaufwandes in der Nacht für die Pflegebegutachtung:
Die Pflegerichtlinien vergleichen den Betreuungsaufwand für ein gesundes Kind mit dem des pflegebedürftigen Kindes.
Die Richtlinie sieht hier nach einer Tabelle 15 Minuten vor.
Darüber hinaus gehender Bedarf müsste als Pflegeerschwernis angesehen werden.
Wenn die Schlafstörung krankheitsindiziert ist, dann dürfte dies als pflegeerschwerend gelten.
Ich hoffe Ihnen dennoch eine erste Orientierung gegeben haben zu können.
Mit freundl. Grüßen
Grübnau
Rechtsanwalt