Sehr geehrter Fragensteller,
vielen Dank für Ihre Anfrage. Anhand Ihrer Angaben beantworte ich Ihre Fragestellungen wie folgt:
Ich rate Ihnen, fristgerecht gegen den Widerspruchsbescheid der AOK Klage zu erheben. Ich gehe davon aus, dass es sich bei dem von Ihnen zitierten Schreiben vom 28.05.2008 um einen Widerspruchsbescheid mit Rechtsmittelbelehrung handelt. Ansonsten fordern Sie ein ordnungsgemäße Bescheidung ein. Für Sie sind zwei Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) relevant:
Urteil des BGS vom 16.12.1999, B 3 P 5/98 R
…Die Blutzuckertests, die Urinkontrollen, das Spritzen von Insulin (einschließlich Vorbereiten der Spritze) und die entsprechende Dokumentation zählen ebenfalls nicht zur Grundpflege. Es sind krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen (Behandlungspflege), die nur dann zu berücksichtigen sind, wenn sie einer der in § 14 Abs 4 SGB XI
genannten Verrichtungen zugerechnet werden können (Urteile vom 19. Februar 1998, B 3 P 3/97 R
, BSGE 82, 27
= SozR 3-3300 § 14 Nr 2
und B 3 P 11/97 R
= SozVers 1998, 253). Die Messungen des Blutzucker- und Urinspiegels und das Führen des Blutzucker-Tagebuchs dienen als Vorbereitungshandlung dem Berechnen, Zusammenstellen sowie Abwiegen und Portionieren der Mahlzeiten und damit allenfalls dem Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung ("Kochen"). Das Spritzen von Insulin ist zu weit vom natürlichen Vorgang des Essens entfernt, um noch unter "Aufnahme der Nahrung" (§ 15 Abs 4 Nr 2 SGB XI
) subsumiert zu werden; es handelt sich vielmehr um eine selbständige Maßnahme der Behandlungspflege o h n e Bezug zu einer der Verrichtungen des Katalogs in § 14 Abs 4 SGB XI
. Für ihre gegenteilige Ansicht kann sich die Klägerin auch nicht auf das Urteil des 10. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27. August 1998 - B 10 KR 4/97 R
- (BSGE 82, 276
= SozR 3-3300 § 14 Nr 7
) stützen, wonach krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen bei der Feststellung des Pflegeaufwands zu berücksichtigen sind, wenn sie entweder Bestandteil der Hilfe für die Katalog-Verrichtungen des § 14 Abs 4 SGB XI
sind oder wenn sie im unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dieser Hilfe erforderlich werden. Der 10. Senat hat in seiner Entscheidung ausdrücklich hervorgehoben, er folge den Entscheidungen des erkennenden (3. ) Senats vom 19. Februar 1998 und sehe in seiner "fortführenden" Entscheidung keine rechtliche Abweichung. Da der erkennende Senat in diesen Entscheidungen die Blutzuckermessungen und die Verabreichung der Insulinspritzen ausdrücklich als nicht berücksichtigungsfähige Behandlungspflege bezeichnet hat, kann das Urteil des 10. Senats nur so verstanden werden, daß auch er hierzu keine andere Entscheidung getroffen und die von ihm aufgestellten Voraussetzungen des unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhangs mit einer Katalog-Verrichtung nicht als erfüllt angesehen hätte.
Es ergibt sich auch nichts anderes daraus, daß die Klägerin darauf hinweist, daß der Zusammenhang zwischen der Insulinverabreichung und dem Bereich "Ernährung" zwingend und eine sog "Vitalfunktion" oder "Grundfunktion" betroffen sei. Der Senat hat bereits entschieden (Urteil vom 29. April 1999, B 3 P 13/98 R
, SozR 3-3300 § 14 Nr 11
), daß hinsichtlich der "Vitalfunktionen" nicht mehr auf die noch zum alten Recht (§ 57
Sozialgesetzbuch Fünftes Buch) ergangene Entscheidung vom 17. April 1996 (3 RK 28/95
= SozR 3-2500 § 53 Nr 10
) abzustellen ist. Vielmehr müssen nach dem ab 1. Januar 1995 geltenden neuen Recht (SGB XI) auch insoweit die allgemein entwickelten Kriterien (Urteil vom 19. Februar 1998, B 3 P 3/97 R
, BSGE 82, 27
= SozR 3-3300 § 14 Nr 2
; vgl auch Urteil des 10. Senats vom 27. August 1998, B 10 KR 4/97 R
, BSGE 82, 276
= SozR 3-3300 § 14 Nr 7
) erfüllt sein, daß die betreffenden Hilfetätigkeiten Bestandteil der Hilfe für die sog Katalog-Verrichtungen sind oder in unmittelbarem sachlichen u n d zeitlichen Zusammenhang mit dieser Hilfe erforderlich werden. Die hier relevanten Blutzuckertests, Urinkontrollen, Insulinspritzungen (einschließlich Vorbereitungen der Spritzen) und entsprechenden Dokumentationen können, müssen aber nicht in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme erfolgen und erfüllen die genannten Kriterien daher nicht.
Mithin ist Ihre Ehefrau entgegen der Auffassung der AOK nicht verpflichtet, im Rahmen der Ernährung „auch noch“ schnell die erforderlichen Maßnahmen aufgrund der Zuckerkrankheit zu verrichten.
Ich gehe davon aus, dass die Beschreitung des Klagewegs nicht Ihr primäres Ziel ist. Daher rate ich Ihnen vor Klageerhebung nochmals mit dem Auszug aus dem Urteil des BSG persönlich beim Leiter der örtlichen AOK vorzusprechen und missverständlich zu fragen, ob die höchstrichterliche Rechtsprechung des BSG nicht bekannt ist. Eine unnötige Klage die Zeit und Geld der Mitglieder der AOK kostet, kann jetzt noch leicht verhindert werden. Ferner verweise ich auf ein weiteres Urteil des BSG:
1. Für die Feststellung von Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu den Pflegestufen ist allein der Hilfebedarf bei den in § 14 Abs 4 SGB XI
aufgeführten Verrichtungen maßgebend.
2. Krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen (sogenannte Behandlungspflege) sind nur zu berücksichtigen, wenn sie Bestandteil der Hilfe bei diesen Verrichtungen sind (Abgrenzung zu BSG vom 17. 4. 1996 - 3 RK 28/ 95
= SozR 3-2500 § 53 Nr 10
)…
BSG, Urteil vom 19. 2. 1998 - B 3 P 3/ 97 R
Ich hoffe, dass ich Ihnen mit diesen ersten Einschätzungen weiterhelfen konnte und verweise bei Unklarheiten auf die kostenlose Nachfragefunktion.
Einstweilen verbleibe ich
mit besten Grüßen
Inga Dransfeld-Haase
Rechtsanwältin
E-Mail: dr-haase@dr-schwoebbermeyer.de
Ich bitte noch folgendes zu beachten:
Die Beratung ist beschränkt durch die von Ihnen gegebenen Informationen. Es kann entsprechend den vorliegenden Bedingungen nur ein erster Überblick geboten werden, der eine abschließende, umfassende und verbindliche Anwaltsberatung nicht ersetzen kann. Der Umfang der Antwort steht weiterhin in Abhängigkeit zu Ihrem eingesetzten Honorar.
Diese Antwort ist vom 01.06.2008 und möglicherweise veraltet. Stellen Sie jetzt Ihre aktuelle Frage und bekommen Sie eine rechtsverbindliche Antwort von einem Rechtsanwalt.
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Sehr geehrte Frau Dransfeld-Haase,
wie von Ihnen angeregt, haben wir in einemSchreiben vom 6.6.08 unseren Widerspruch aufrecht erhalten und einen Widerspruchsbescheid mit Rechtsmittelbelehrung eingefordert, aber bis heute keine Antwort erhalten.Durch den Sozialdienst haben wir in der Zwischenzeit erfahren, dass die AOK für das bis 30.6.08 gültige Rezept ab 17.5.08 nichts mehr an die Caritas bezahlt hat. In der Zwischenzeit wurde vom Arzt wieder eine Verordnung bis zum 30.9.08 für die Blutzuckermessung und die Injektionen ausgestellt und über den Sozialdienst auch an die AOK weitergereicht. Der Sozialdienst übernimmt also weiterhin die Messungen und S:C:-Injektionen.
Meine Fragen:
--Muss die AOK eine Widerspruchsbescheidung mit Rechtsmittelbelehrung zustellen und in welcher Zeit?
--Kann die AOK einfach die Zahlungen einstellen? Muss sie nicht vielmehr bis zu einer Entscheidung weiterzahlen?
--Kann der Sozialdienst im Eventualfall die ausstehenden Beträge bei meiner Mutter einfordern?
--Wie sollen wir uns weiterhin verhalten?
Sehr geehrter Ratsuchender,
gerne beantworte ich Ihre Nachfragen.
Die Wartezeit hinsichtlich der ausstehenden Bescheidung beruht darauf, dass wahrscheinlich vor der Ferienzeit der Ausschuss nicht mehr getagt hat. Die AOK kann Ihnen genau mitteilen, wann über Ihren Widerspruch entschieden wird.
In Betracht kommt nach Fristablauf eine Untätigkeitsklage gegen die AOK. Ob der Widerspruchbescheid eine Rechtsbehelfsbelehrung enthält ist insofern unerheblich, da dann nicht die Monats- sondern die Jahresfrist zur Erhebung der Klage gilt.
Aufgrund der ausstehenden Foderungen des Sozialdienstes und der Einstellung der Zahlungen der AOK sollten Sie ggf. einstweiligen Rechtschutz für eine vorläufige Entscheidung in Betracht ziehen.
Ihre Mutter wird wahrscheinlich Prozesskostenhilfe erhalten.
Mit freundlichen Grüßen
Raìn Dransfeld-Haase